2003

In diesem Jahr veröffentlichten sowohl Martin als auch Dave Soloalben. Damit begann ein teilweise recht amüsanter "Zickenkrieg". Wer das las, musste befürchten, es würde nie wieder ein DM-Album geben ...
Martin legte vor und veröffentlichte am 14.04. die Single Stardust / Life Is Strange, der am 28.04. das Album Counterfeit 2 sowie am 17.11. die Single Loverman folgten. In der Zeit vom 24.04. bis zum 07.05. gab er insgesamt sieben Solokonzerte.
Martin zeigte sich wesentlich diplomatischer als in so manchem Jahr davor, machte aber auch Aussagen, die später zu Ärger mit Dave führen sollten. Wie etwa die Antwort auf die Frage, ob er sich Daves Soloalbum angehört habe: "Ich habe gerade mit unserem Manager darüber gesprochen. Ich habe versucht, ein Päckchen zu bekommen, das Dave mir dreimal geschickt hat, aber es scheint verloren gegangen zu sein. - Ich weiß auch nicht, was Daves Erwartungen sind. Ich habe keine großen kommerziellen Erwartungen für Counterfeit 2. Es würde mich überraschen, wenn es ein großer Erfolg würde."[1]

Und es gab tatsächlich Journalisten, die auf uralten Themen herumkauten, etwa wie die Familie auf seinen Kleidungsstil in den 1980ern reagiert habe und ob er nicht vielleicht doch schwul sei - wenigstens ein ganz kleines bisschen, (okay, das Interview wurde von einem Gay-Magazin geführt.)
Martin: "Mein Vater hat mich wegen meines Kleidungsstils wahrscheinlich mehr verleugnet als meine Mutter. Aber das waren die 1980er: Jeder sah komisch aus, es lag einfach etwas Komisches in der Luft. Und ich denke bis heute, dass jeder deswegen denkt, ich sei schwul. Nun, nicht jeder, aber viele. Mich stört das nicht. Ich selbst habe meine Sexualität nie infrage gestellt. Ich fühlte mich immer total heterosexuell, sehr wohl mit meiner Sexualität und auch wohl damit, mich so anzuziehen - das war nichts Besonderes für mich. Es schien nur etwas Besonderes für andere zu sein."[2]
Seit geraumer Zeit lebte Martin in Santa Barbara, Kalifornien - mit Ehefrau Suzanne (die Ehe zerbrach kurz darauf), den beiden Töchtern Viva-Lee und Ava-Lee sowie Sohn Calo Leon, der 2002 geboren worden war. "Ich lebe zwei völlig unterschiedliche Leben. Manchmal bin ich der Rockstar, und die meiste Zeit bin ich zu Hause bei meiner Familie, wo in der Umgebung niemand weiß, wer ich bin. Ich spiele dreimal in der Woche Fußball, und in den ersten sechs Monaten wusste niemand in meinem Team, wer ich bin. Das war sehr gut."[3]

Nach seinen Motiven gefragt, warum er ein Album mit Coversongs aufgenommen habe, erklärte er: "Als ich ein Kind war, liebte ich Bryan Ferrys Coversong-Alben. Daher gefiel mir die Idee, so etwas Ähnliches zu machen. Ich denke, es gibt den Leuten einen Einblick darin, wovon ich beeinflusst werde. Wenn ich eine Coverversion mache, dann versuche ich nicht, das Original zu übertreffen. Das sind einfach Songs, die ich mag und die mich emotional berühren.[4] Ich hatte schon eine ganze Weile darüber nachgedacht, ein weiteres solches Projekt zu machen, aber es gab eine Menge Verpflichtungen seitens der Band, und ich begann, die Zeit wertzuschätzen, die ich mit meiner Familie verbringen kann. Es ist schwierig genug, Bandleben und Familienleben miteinander zu verbinden, also habe ich es immer wieder verschoben. Als ich hörte, dass Dave ein Soloalbum machen würde, dachte ich, dass es ideal sein würde."[5]
Er sah sich auch eines von Daves Konzerten an, als dieser mit Paper Monsters auf Tournee war. Während Martin sagte, es sei eine seltsame Erfahrung für ihn gewesen, weil Dave viele DM-Songs gespielt hätte, sagt Dave: "Er kam zu einem der L.A.-Konzerte. Ich hatte ihn eine Weile nicht gesehen. Und nachher - er wird mich dafür vermutlich hassen - sagte er: 'Es kommt mir wirklich so vor, als wäre ich jetzt ein bisschen ein Fan, der dir nachreist.' Das schockierte mich, weil ich schon so lange wertschätzte, was er macht."[6]
Offenbar ermutigte es ihn dazu, das zu tun, was er in der Folge tat ...



I Cast A Lonesome Shadow

(I Cast A Lonesome Shadow - with friendly permission of © Sabine Perigault)



Am 26.05. veröffentlichte Dave die Single Dirty Sticky Floors / Stand Up / Maybe, der am 02.06. das Album Paper Monsters folgte.
Gerüchten zufolge hatte er Alan gefragt, auf diesem Album Klavier zu spielen oder gar, es zu produzieren. Es gibt eine Quelle, die besagt, dass Alan ablehnte, weil er keine Zeit habe, während in dieser der Eindruck entsteht, Alan habe nie davon gehört: "Ich wusste nicht, dass Dave an meinen sogenannten Produktions-Fähigkeiten interessiert war. Wie du weißt, kommentiere ich neuere DM-Werke nicht weiter, aber ich freue mich für David. Ich bin sicher, es fühlt sich großartig und befriedigend an, dass er sich mal ein paar Dinge von der Seele schreiben konnte, es geschafft hat und jetzt auf Tour ist, etwas, was er sehr liebt."[7]

Dave redete natürlich weitaus mehr als Martin: "Ich hatte während des letzten Bandalbums das Gefühl, dass das etwas ist, was ich tun musste, und dass dies innerhalb von Depeche nicht möglich war.[8] Dieses Album hat mir geholfen, meine Unsicherheit loszuwerden."[9]
Über Black And Blue Again sagt er: "Meine Frau und ich hatten einen heftigen Streit, und ich verließ die Wohnung. Ich war auf dem Weg ins Studio, als mir plötzlich klar wurde, dass ich derjenige war, der im Unrecht war. Der Song gibt zu, dass ich nicht immer eine sehr nette Person bin. Ich realisierte, dass Beziehungen nicht einfach sind, und ich mich ändern muss."[10]
Über Dirty Sticky Floors: "Ich hatte diese riesigen Wizard-of-Oz-Statuen in meinem Apartment in Santa Monica - den Blechmann und den Löwen. Sie wurden zu meinen Kameraden. Sie redeten mit mir. Schließlich erschoss ich den Blechmann. Er war der Schlimmste. Aber das war natürlich Paranoia. Ich war allein, lief in der Wohnung mit einer geladenen 38er herum. Ich hatte Angst vor meinem eigenen Schatten. Ich meine, ich lache jetzt darüber, aber es war wirklich schwer zu der Zeit. Mit diesem Song wollte ich die Dummheit der Abhängigkeit aufzeigen. Zu sagen, schau, so endet das - mit der Toilettenschüssel abhängen, auf dem Fußboden herumkriechen, meistens allein."[11]

Am 05.06. startete Dave eine Solotournee, die - mit einer Pause im September - bis zum 30.11. dauerte. Zwischendrin erschien am 18.08. die Single I Need You / Closer / Breathe.
Im Juni 2003 traf Dave wieder mit Gavin Martin zusammen, der zehn Jahre zuvor die Zustände hinter den Kulissen von DM auf der Devotional beschrieben hatte.
"War ich aggressiv zu dir?", fragt Dave ihn. "Ich erinnere mich, gelesen zu haben, was du geschrieben hast, und ich war wütend deswegen. Aber ich bin froh, dass du es getan hast. Es waren Leute wie du, die sagten: 'Vergesst die Musik, der Typ ist krank und braucht Hilfe.' Aber zu der Zeit konnte ich keine Hilfe annehmen."[12]

Zu Beginn seiner Promotiontour war Dave noch recht gut gelaunt.
Frage eines Fans: "Hast du ein freies Abonnement von dem französischen Magazin, von dem ihr den Namen kopiert habt?"
Dave: "Nein, aber sie wollten mal eine Fotosession mit uns machen. Jahre davor gab es eine Zeit, in der sie versuchten, uns zu verklagen, weil wir den Namen kopiert hatten. Als wir erfolgreicher wurden, ließen sie davon ab, weil es ihnen wahrscheinlich half, mehr zu verkaufen. Ich sehe es immer in dem Laden in New York, in dem ich meine Zeitschriften kaufe, und es ist lustig, weil es so ähnlich aussieht wie Haus und Garten."
Frage eines anderen Fans: "Ist es wahr, dass dich vor ein paar Jahren ein Typ wegen eines Autogramms auf dem Klo ansprach und du dich umgedreht und ihn angepinkelt hast?"
Dave: "Ja, das ist wahr. Ich weiß aber nicht mehr, wo das war. Es macht mir nichts aus, Autogramme zu schreiben, aber wenn man an einem Urinal steht und jemand steht neben dir, mit einem Stift in der Hand, ist es etwas seltsam. Ich habe ihm sogar ein Autogramm gegeben, aber ich habe dabei weiter gepisst - auf seine Füße - aber er hat das nicht gemerkt, weil er so verrückt darauf war, mich dieses Papier unterschreiben zu lassen. Jetzt denke ich, ich hätte ihm sagen sollen, er solle sich verpissen."
(Entschuldigung, dass ich die unfeinen Ausdrücke so stehen gelassen habe, aber ich mag das Wortspiel ... ;-))



Hidden Houses

(Hidden Houses - mit freundlicher Genehmigung von © Emilie Lashmar)



Aber mit der Zeit wurde Dave klar, dass es nicht so einfach war, ein Soloalbum herauszubringen, ohne dass sämtliche Leute eine DM-Verbindung herstellten. Ob das nun der Grund war oder nicht, in jedem Fall begab er sich in eine Art medialen Ringkampf mit Martin.
"Hat Martin Paper Monsters gehört? Er rief mich an und sagte: 'Ich bin gerade aus den Ferien zurück, und ich habe eine Nachricht bekommen, dass ein Album bei der Post liegt, was ich holen werde, aber weshalb ich anrufe, ist: Hast du eine Nummer von einem guten Chiropraktiker hier in der Gegend?'[13] Ich schreibe neue Songs, arbeite mit neuen Musikern. Ich bin offen dafür, und falls es eine neue DM-Platte geben soll, müsste Martin sich auch dafür öffnen. Wenn er nicht als Team arbeiten will, wüsste ich nicht, warum ich das machen sollte. Im Moment weiß ich nicht genau, ob ich bei DM unter denselben Bedingungen arbeiten könnte wie vorher. Ich glaube nicht. Man müsste mich zu Wort kommen lassen, mich anhören und mir das Gefühl geben, dass meine Ideen ebenso wichtig sind wie die Martins. Ich habe Martin ein Vorab-Exemplar meines Albums geschickt, nach seinem musste ich erst fragen. Darauf Martin: 'Ich habe meinen Manager gebeten, dir eins zu schicken.' Ich: 'Was soll das heißen, du hast deinen Manager darum gebeten? Krieg deinen A*** hoch, nimm eine CD, steck sie in einen Umschlag und schick ihn mir, du arroganter A***!'"[14]

Es wurde sogar noch schlimmer. Mit der Zeit reagierte Dave immer gereizter und dünnhäutiger: "Ich bin nicht hier, um von Martin Gore beurteilt zu werden. Ich bin nicht seine Marionette. Wenn Martin mir das geben kann, was ich ihm in den ganzen Jahren mit seinen Songs gegeben habe, dann können wir zusammenarbeiten. Ich habe jetzt ein Soloalbum draußen ..."
Aber als er nach der perfekten Arbeitsweise mit Martin und Fletch gefragt wurde: "Nein, Leute, passt mal auf: Es gibt keine Pläne, okay? Reicht das jetzt? Und Andy macht im Studio überhaupt nichts, das wissen selbst die Fans. Musikalisch hat er vielleicht seit A Broken Frame nichts mehr zu DM beigetragen. Es waren Alan, Martin und ich. Alan hat die Band verlassen, und jetzt sind es Martin und ich. Es geht mir jedenfalls nicht darum, weiterzumachen, nur, weil DM ein so großer Name ist. Die Aussicht auf ein neues Album muss bei mir Begeisterung auslösen. Es muss bei allen Beteiligten ganz tief von Herzen kommen. Aber im Moment finde ich es ziemlich unverschämt, mir all diese Fragen zu stellen. Ich arbeite gerade mit einer coolen Band zusammen ..."
Und als man es wagte, ihn auf Alan anzusprechen ...
"Alan verließ DM vor zehn Jahren. Du solltest allmählich drüber weg sein. - Ich sah Alan kürzlich, es geht ihm gut, er lebt mit seiner Frau und den Kindern auf dem Land und macht Musik unter dem Namen Recoil. Er hat mein Konzert in London gesehen, davor habe ich etwa zwei Jahre nicht mit ihm gesprochen. Ich mache jetzt etwas anderes und habe sehr großen Spaß daran."[15]



Bitter Apple

(Bitter Apple (Alone in the city) - mit freundlicher Genehmigung von © Xiker Hidalgo)



Manchmal reagierte die Presse beinahe ebenso zickig wie er, nannte ihn eine "beleidigte Diva", verglich seine Texte mit denen Martins und mokierte sich über "klischeebehaftete Kreuzreime."
Andererseits war er an solchen Sticheleien oft selbst schuld. So etwa korrigierte er ein Interview mit der österreichischen TV-Sendung Sendung Ohne Namen von 20 auf 10 Minuten herunter, verbat sich Fragen zu DM und hatte dann noch nicht einmal mehr Lust zu den 10 Minuten, sondern brach das Interview ganz ab.
(Den Bericht dazu könnt ihr hier lesen. Vielen Dank an Clemens Haipl für den Hinweis und den Link.)

Während Martin erst mal schwieg, (gute Entscheidung), schoss Fletch zurück: "Dave redet Unsinn. Ich meine, er hat gerade sein erstes Soloalbum herausgebracht, und da darf er mit Recht sehr stolz drauf sein. Deshalb schwebt er derzeit ein bisschen auf einer Wolke. Doch im Grunde weiß er natürlich, dass Martin der Songwriter ist. Martins Songs und Daves Stimme - das ist DM."[16]
Aber Dave blieb bei seiner Meinung. "Es macht keinen Spaß, wenn man im Studio ist, eine Idee zu etwas hat, und die Person, mit der man arbeitet, hält es nicht mal für nötig, eine Gitarre zur Hand zu nehmen. Das erscheint mir als Zeitverschwendung. Solange er nicht dafür offen ist, mit mir ins Studio zu gehen und mit mir zusammenzuarbeiten, sehe ich keinen Grund, warum wir weitermachen und ein weiteres DM-Album produzieren sollten. Und weißt du was? Zu diesem Zeitpunkt ist es mir sch***egal."[17]






Quellenangaben:
[1] Entnommen aus: 60 Second Interview: Martin Gore, Metro, 28.04.2003. Autor: James Ellis.
[2] Entnommen aus: The Return of Martin Gore, Boyz, 12.04.2003. Autor: unbekannt.
[3] Entnommen aus: Martin Gore: Counterfeit 2 Interview, Mute ICDSTUMM214. Interviewer: unbekannt.
[4] Entnommen aus: The Return of Martin Gore, Boyz, 12.04.2003. Autor: unbekannt.
[5] Entnommen aus: 60 Second Interview: Martin Gore, Metro, 28.04.2003. Autor: James Ellis.
[6] Entnommen aus: Interview with Dave Gahan, Mojo, 22.03.2013. Autor: Martin Aston.
[7] Entnommen aus: Recoil aka Alan Wilder - On hold for the time being, Sideline.com, 21.03.2004. Autor: Bernard van Isacker.
[8] Entnommen aus: The Uncut Questionnaire: Dave Gahan, Uncut, Juli 2003. Autor: Chris Roberts.
[9] Entnommen aus: Facing my Monsters, Daily Mirror, 27.06.2003. Autor: Gavin Martin.
[10] Entnommen aus: Depeche Frontman in New Mode, Daily Mail, 02.05.2003. Autor: Adrian Thrills.
[11] Entnommen aus: The Uncut Questionnaire: Dave Gahan, Uncut, Juli 2003. Autor: Chris Roberts.
[12] Entnommen aus: Facing my Monsters, Daily Mirror, 27.06.2003. Autor: Gavin Martin.
[13] Entnommen aus: Cash for Questions: Dave Gahan, Q, Juni 2003. Autor: Paul Stokes.
[14] Entnommen aus: Q & A Dave Gahan, Metro, 27.10.2003. Autor: Rob Haynes.
[15] Entnommen aus: Ich bin nicht Martin Gores Marionette, Laut.de, 06.11.2003, Autor: Michael Schuh.
[16] Entnommen aus: Dave Gahan schwebt auf einer Wolke, Laut.de, 30.10.2003, Autor: Michael Schuh.
[17] Entnommen aus: Gahan Ditching Depeche Mode?, Rolling Stone (US), 20.08.2003. Autor: Corey Levitan.



Biografiefaden: 2004

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